Titel: Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde
Autor: Delius, Friedrich Christian
Infos: rororo Verlag, 128 Seiten, Taschenbuch
Bestand: 1
Am berühmtesten Tag der deutschen Nachkriegsgeschichte, dem Tag an dem Deutschland Fußballweltmeister wird und als krasser Außenseiter den Favoriten Ungarn schlägt, dem Tag, an dem eine besiegte Nation neues Selbstbewusstsein erlangt, am 4. Juli 1954, wird ein elfjähriger Pastorensohn in dem hessischen Dorf Wehrda wie an jedem Sonntag geweckt: vom Lärm der Kirchenglocken, die eine Viertelstunde lang nur eine Botschaft einläuten: Du sollst den Feiertag heiligen!
In der freudigen Spannung auf die Rundfunkübertragung des Spiels erleidet der Junge die Zwänge der Tagesrituale. Umstellt von christlichen Bildern und eingeschüchtert von der Sprachgewalt des Vaters, weiß der Sohn nur mit Stottern und stiller Verweigerung zu antworten.
Am Nachmittag dieses Sonntags hört er jedoch einem „unerhörten Gottesdienst“ zu: Herbert Zimmermanns Rundfunkreportage wird für den verängstigten, in einer „Sprachhölle“ lebenden Elfjährigen zu einer Art Damaskus-Erlebnis. Das religiöse Vokabular des Reporters, das in der Huldigung an den „Fußballgott“ Toni Turek gipfelt, schockiert den Jungen zwar, erleichtert ihm aber den „Abschied von den Eltern“ und ermöglicht eine Identifikation mit den Fußballhelden. Für zwei Stunden dem „Vaterkäfig“ entronnen, erlangt er eine Ahnung von Freiheit – „ich war der glücklichste von allen, glücklicher vielleicht als Werner Liebrich oder Fritz Walter“.
Die Fußballweltmeisterschaft 1954, ein deutscher Mythos, wurde bislang kaum zum Gegenstand der Literatur. Friedrich Christian Delius stellt sie in den Mittelpunkt seiner autobiographischen Erzählung über das autoritäre Klima seiner Kindheit, über die Zwänge und die Enge der fünfziger Jahre. Er nimmt jenen bewegenden Fußball-Sonntag zum Anlass für eine kleine Parabel über das Janusgesicht der Sprache – die Sprache als unterdrückende Macht und als Möglichkeit der Befreiung.